Nach pandemiebedingter Pause hat die Kunstbiennale wieder ihre Tore geöffnet.
Wer weiss ist, über 50 Jahre alt, männlich und Europäer (wie der Autor), kann sich glücklich schätzen, wenn er an der 59. Biennale in Venedig Kunst nur konsumieren und nicht ausstellen möchte. Er hätte kaum eine Chance.
Die Kuratorin Cecilia Alemani, bekannt als Chefkuratorin der High Line Art in New York, einer Skulpturenmeile auf dem Trassee einer ausgedienten Hochbahn, hat mehr als 1500 Werke von 213 Künstlerinnen und Künstlern in die beiden zentralen Ausstellungen in Venedigs Arsenale und die Gardini geholt. Rund 90 Prozent der Ausstellenden sind weiblich. So gehen auch die Hauptpreise, die (männlichen) goldenen Löwen, an Künstlerinnen. Zwei Vertreterinnen der Black Community haben mit ihren Arbeiten die Jury am meisten überzeugt: Die US-Amerikanerin Simone Leigh und die Britin Sonia Boyce nehmen je einen Löwen mit nach Hause. Die Qualität ihrer Werke ist selbstverständlich hoch, davon konnte man sich kürzlich auch an der Art Basel überzeugen. Konsequent wäre es allerdings gewesen, wenn Künstlerinnen für die Hauptpreise gewählt worden wären, die nicht in einem englischsprachigen Land der ersten Welt arbeiten.
Leigh wurde für ihren Beitrag in der Hauptausstellung «The Milk of Dreams» ausgezeichnet. Die fast fünf Meter hohe Bronzebüste «Brick House», die den Kopf einer augenlosen Afrikanerin über einem Torso in Form eines traditionellen Tonhauses darstellt, findet sich gleich zu Anfang der Ausstellung im Arsenale-Areal. Die Skulptur Leighs, welche im Aussenbereich des Arsenale mit weiteren Werken vertreten ist, verweist durch ihre architektonischen Bezüge auf die starke, mit beiden Beinen auf der Erde stehenden afrikanischen Frau, die in traditionellerweise patriarchalen Systemen Selbstbehauptung und Charakter zeigt.
Gender, Race, Identity
Hiermit sind einige der grossen Themen der diesjährigen Biennale bereits ausgesprochen. Geschlechterrollen, Hautfarbe, Identität – oder besser auf Englisch: Gender, Race, Identity! Wer sich dieser Inhalte in seiner oder ihrer Kunst verschliesst, hat wenig Chancen auf einen Platz in dieser Schau.
So erstaunt auch der Löwe für Sonia Boyce nicht. Sie wird mit dem Preis für ihre Arbeit im britischen Pavillon geehrt. Die Arbeit ist in der Tat berückend. Fünf schwarze Sängerinnen flimmern über grosse Bildschirme und singen einzeln oder gemeinsam Lieder, die wiederum auf ihre Identität als schwarze Frauen verweisen. Ein Erlebnis für alle Sinne, das auf ein weiteres Leitmotiv dieser Biennale verweist: Die Fragilität des menschlichen Körpers, auch die Metamorphosen dieses Körpers. Die Stimmen der Sängerinnen sind nicht immer stark und laut, sondern drücken auch Verletzlichkeit aus, die Sängerin verwandelt sich in einen scheuen Menschen, der Körper verschwindet hinter den Tönen.
Drei Themenblöcke also strukturieren diese Biennale, wie Alemani in einem Statement erklärt: Die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen, die Beziehung zwischen Individuen und Technologien und die Verbindung zwischen den Körpern und der Erde. Der Fokus auf den Körper führt freilich dazu, dass die figurative Malerei und die körperbetonte Skulptur an dieser Ausgabe der Biennale fröhliche Urständ feiern. Die abstrakte Kunst hat es schwerer, auch wenn es wackere Versuche gibt, der Abstraktion Raum zu schaffen, wie beispielsweise im phänomenalen irischen Pavillon. Dort setzt Niamh O’Malley in ihren Skulpturen ganz auf Form und Material. Formen aus Kalkstein liegen am Boden, Stahlfächer bieten Schutz vor metaphysischer Bedrohung. Abstrakte Formen generieren eine Ästhetik, die jenseits jeder figurativen Bedeutung liegt.

Zeitkapseln schaffen Verbindung zur Vergangenheit
Die im Rahmen einer der Zeitkapseln vertretene italienische Künstlerin Carla Accardi bringt ebenfalls abstrakte Zeichen ohne Referenz auf die Leinwand, eine Befreiung von Sinn und Bedeutung, ein starkes Bekenntnis zur reinen Form. Mit den Zeitkapseln schafft Alemani einen Bezug zwischen der aktuell produzierten Kunst und ihren Wurzeln bei Künstlerinnen des vergangenen Jahrhunderts, ein wichtiger Hinweis, dass all diese Auseinandersetzung mit Gender und Identität ohne eine frühe feministische Kunst kaum möglich wäre. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die fantasievollen Kostüme, die die expressionistische Tänzerin Lavinia Schulz im Berlin der 1920er-Jahre mit ihrem Ehemann Walter Holdt kreierte. Sie transformierten Tänzer und Tänzerinnen in ein hybrides Kunstwerk – eine Metamorphose des Körpers in ganz eigener Art.


Aber diese Auseinandersetzung mit der Ausbreitung von Form im Raum bleibt singulär. Schnell kommen wir zurück in Sphären der Identitätssuche, und der Fragilität dieser Identität. Die mit einem goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnete chilenische Künstlerin Cecilia Vicuña zeigt die Notwendigkeit, in einer posthumanen Welt – dargestellt durch eine entvölkerte städtische Dystopie – die Menschen quasi neu zu erfinden, indem sie gefressen und verdaut werden. Die Auszeichnung für die Südamerikanerin ist so verdient wie der zweite Löwe für das Lebenswerk, der an die Deutsche Katharina Fritsch geht, eine Bildhauerin, die seit vielen Jahren Kunst auf Museumsniveau macht. Sie ist in Venedig mit einem grossen grünen Elefanten vertreten.
Eine Entdeckung wert ist der in New York geborene, doch seit Jahrzehnten in Südafrika wohnende Fotograf und Künstler Roger Ballen. Er zeigt im Südafrikanischen Pavillon verstörende Bilder in Schwarzweiss, die ebenso auf die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers wie seiner Seele hinweisen. Die Zerrissenheit anlässlich der Überforderung durch die globale Lebensweise spiegelt sich in vordergründig einfachen Bildern eines Körpers, der keine Einheit mehr bilden kann.
Verwandlung allenthalben
Leise und zart nimmt die bereits verstorbene Österreicherin Birgit Jürgenssen das Thema der Metamorphose auf. In ihren Farbstiftzeichnungen aus den 1970-er Jahren, die in den Giardini zu sehen sind, verwandeln sich menschliche Körper, eine animalische Erotik ausstrahlend, in Krebse oder Katzen. Gräser werden zu Vögeln, die davonfliegen, bevor die Pflanze selbst verdorren kann. Der Mexikaner Felipe Baeza hingegen schafft Figuren, die sich in der Verwandlung von Mensch zu Feuerkörpern befinden.
Zurück zum Thema der Identität. Exemplarisch greift das Thema der Neuseeländische Pavillon auf, der spielerisch mit der kolonialistischen Sichtweise der Südsee-Perzeption durch Paul Gaugin umgeht, indem er dessen Bildsprache mit queeren Bildpersonal ad absurdum führt. Überdies bringt die japanisch- und samoanischstämmige Künstlerin Yuki Kihara das aktuelle Thema des Klimawandels ein, der die Südsee in ihrer Existenz bedroht. Auch hier wird die Kunst zum Sprachrohr bedrohter Entitäten.
Mit den Implikationen eines Aufwachsens in Zimbabwe setzt sich die Künstlerin Kudzanai-Violet Hwami in ihrem Werk auseinander. Ihre Ausstellung in der zentralen Schau in den Giardini zeigt Bilder einer Hochzeitszeremonie des Shona-Volkes im südlichen Afrika. Die expressionistischen Gemälde ziehen den Betrachter in diese – für uns – fremde und exotisch anmutende Zeremonie, in der Vögel gesegnet werden und das Brautpaar gar den Himmel erkunden darf.
Dänische Kentauren
Es gibt viel zu sehen an der diesjährigen Biennale. Und die Schau fügt sich zu einem Ganzen, das den von Alemani in den Fokus gerückten Themen Platz gibt und sie von diversen Seiten beleuchtet. Die Verbindung von Mensch, Natur und Technologie findet ihren Platz auch im Mythischen, einem der Urgründe der Kunstproduktion. Die mysteriösen, toten Kentauren, die im dänischen Pavillon liegen, gehören ebenso dazu wie die übergrossen Talismane von Tau Lewis. Auch die 111 kleinen Hai-Skulpturen von Jana Euler scheinen die Angst vor diesem Raubtier der Meere magisch bannen zu wollen.

Wenn man den Besuch der Biennale, für den man mindestens zwei Tage einplanen sollte, im Arsenale beginnt, dann bei den Giardini mit der zentralen Ausstellung weitermacht und sich danach im Uhrzeigersinn durch die Pavillons bewegt, landet man mit etwas guter Planung zum Ende im belgischen Pavillon. So kann man zum Abschluss eines der Highlights mitnehmen. Der Künstler Francis Alÿs zeigt Videos von Kinderspielen, die in verschiedenen Ländern Tradition haben. Eine Überdosis an Lebensfreude, verbunden mit einem Krach, der an volle Pausenhöfe in Grundschulen erinnert, reinigt die mit soviel Gegenwartskunst gefüllten Gehirne der Besucherinnen und Besucher von überflüssigen Bezügen zwischen Kunst und Leben und stimmt ein auf die Rückkehr in den Alltag der Lagunenstadt, der allerdings kaum mehr von Kindern geprägt ist – dafür, nach Abklingen der Pandemie, vor allem wieder von Tagestouristen aus aller Welt.


Kasten: Anselm Kiefer im Dogenpalast
Während die weissen alten Männer bei Cecilia Alemani keine Chancen für einen Auftritt haben, werden sie bei den zahlreichen Side Events in der Stadt gefeiert. Und das zurecht. Anish Kapoor, Ugo Rondinone, Heinz Mack und Georg Baselitz sind mit eindrucksvollen Ausstellungen vertreten. Mit Marlene Dumas hat es auch eine Frau mit einer sehenswerten Schau im Palazzo Grassi nach Venedig geschafft.


Eine künstlerische Sensation ist der Auftritt von Anselm Kiefer im Dogenpalast. Auf 800 Quadratmeter zeigt der deutsche Maler in riesigen Gemälden aus bis zu 20 zusammengesetzten Leinwänden die Geschichte Venedigs aus seiner Sicht: Der Aufstieg zur See- und Handelsmacht über die Heimholung der Leiche des Stadtheiligen St. Markus aus Alexandria bis zu den verheerenden Bränden im 16. Jahrhundert. Die meterhohen Leinwände wurden vor die bestehenden Bilder venezianischer Meister gehängt und verweisen mit den vor sie in luftiger Höhe platzierten Einkaufswagen, gefüllt mit Habseligkeiten, und den Sicheln des Todes auf Gewalt und Flucht, Plagen, die auch den aktuellen Alltag in vielen Teilen der Welt dominieren. Diese noch bis 29. Oktober zu sehende Attraktion darf man sich nicht entgehen lassen. Eintritt im Vorfeld online reservieren, um die Warteschlangen zu umgehen.

Beitragsbild: Tetsumi Kudo: Flowers from Garden of the Metamorphosis
59. Internationale Kunstausstellung, La Biennale di Venezia
23. April – 27. November 2022
Öffnungszeiten Giardini und Arsenale 2022:
23. April – 25. September, 11 – 19 Uhr
27. September – 27. November, 10 – 18 Uhr
Montags geschlossen (außer 25. April, 30. Mai, 27. Juni, 25. Juli, 15. August, 5. September, 19. September, 31. Oktober, 21. November)