Das Kind im Mann

Olivier Adam lotet in seinem Roman „An den Rändern der Welt“ die Untiefen der Familie aus. 

„Der Klassenkampf ist ein Garten, ein Pingpong-Tisch, ein Zimmer für jeden“, heisst es im Motto des neuen Romans von Olivier Adam. Gemeint ist das Leben in der Banlieue von Paris, wo schon relative Kleinigkeiten den Unterschied zwischen arm und reich, oben und unten definieren. Das war schon so, als der Ich-Erzähler, der Schriftsteller Paul, dort in den 1970ern aufwuchs. Zur Zeit der Romanhandlung lebt er im Finistère, dem äussersten Zipfel der Bretagne, wohin er vor vielen Jahren mit Frau und zwei Kindern geflohen ist. Weg von Paris, weg von der Peripherie, weg von der Depression, die ihn dort in ihren Klauen hatte.

Am Atlantik blies die Meeresluft die dunklen Gedanken weg, bändigte den „gelben Hund, der an meiner Brust zu knabbern begann“, wie Paul seine Krankheit nennt. Doch mit einem Schriftsteller zusammenzuleben, ist auch dann nicht einfach, wenn die Depression im Zaum gehalten wird. Immerzu schreibt er, denkt er, ist abwesend, physisch oder geistig. Seine Frau Sarah, eine Pflegefachfrau, zieht die Konsequenz, trennt sich von ihm und zerstört damit das existenzfestigende Familienleben mit seinen beiden geliebten Kindern. Dann nimmt sie sich einen Arzt als Lover, dem Paul in der Kneipe aus Rache die Nase bricht.

Der Depression entfliehen

Kein Wunder, kehrt die Depression zurück; an Schreiben ist nicht mehr zu denken. Da ereilt ihn der Ruf seines Bruders, mit dem ihn eine Hassliebe verbindet: Die Mutter liegt im Krankenhaus, der Vater muss versorgt werden und der Bruder, Tierarzt von Beruf und reichlich genervt von den ewigen Katzen und Hunden in der Praxis, hat keine Zeit, sich um die Eltern zu kümmern. Also muss Paul zurück in die Vorstadt, die er so erfolgreich verdrängt hat, um sich um seinen grimmigen Vater zu kümmern.

Die Peripherie ist mittlerweile selbst zum Zentrum geworden, nicht nur geographisch, sondern auch gesellschaftlich und sozial. Hier spielt sich das Leben der meisten Bürger ab, nicht mehr auf der Île de la Cité. Immer weiter aus der Stadt verdrängt, lebt hier nun auch der Mittelstand. Dennoch: In dieser Stadt, die während Pauls Kindheit am Rande der Zivilisation zu liegen schien, hat sich wenig verändert. Er trifft alte Schulfreunde, die es, im Gegensatz zu ihm, nie aus der Banlieu herausgeschafft haben. Man kennt die Gestalten aus früheren Romanen von Adam: Sie arbeiten unter der Woche von früh bis spät, am Wochenende steht der Einkauf an, am Sonntag ein Kinobesuch und schon ist wieder Montag. Man kennt sie aber  nicht nur aus Romanen, sondern auch aus dem eigenen Leben; das Identifikationspotenzial ist hoch in diesem Buch; gefährlich hoch.

Die Geschichte entwickelt sich etwas pastös weiter. Pauls Mutter liegt im Sterben, der Vater plant den Umzug aus dem Haus in eine Alterswohnung. Und um etwas Spannung in den ruhigen  Fluss zu bringen, wartet ein seit Jahren unentdecktes Familiengeheimnis – woraus der küchenpsychologisch gebildete Leser flugs die Depressionen Pauls herleitet. Hier aber enthüllt sich die feine Klinge des Autors: subtil spielt er mit den voreiligen Erwartungen des Lesers an allzu einfache Kausalzusammenhänge. Es ist grosse Erzählkunst, was  Olivier Adam uns hier bietet. Das bringt allerdings auch mit sich, dass viele Erzählfäden sich im Ungefähren verlieren.

Die Mission Banlieue

Sicher ist: Die Mutter stirbt. Sicher ist: Der Vater ist der einzige, der einigermassen glücklich aus dieser Geschichte kommt. Als Hahn im Korb geniesst der frühere Griesgram die Aufmerksamkeit der alleinstehenden älteren Damen in der Alterssiedlung.

Unsicher ist, warum der Autor uns diese Geschichte erzählt. Adam schreibt weiter an seiner Mission, der Banlieue eine literarische Bedeutung zuzuweisen. Das ist gut so. Frankreich heute bedeutet nicht mehr nur Paris, sondern auch Vororte, Ödland, Provinz. Und doch verharrt alles im Relativen. Die sterbende Mutter bleibt in der Erinnerung ihres Sohnes erstaunlich blass, ja irrelevant für sein Leben. Die so furios komponierte Geschichte der Scheidung und des Leidens daran verliert sich in einem Park in Japan, dem Sehnsuchtsort Pauls, wo vielleicht – oder vielleicht nicht – alles wieder gut wird. Die Leben der Schulfreunde ändern sich durch die Begegnung mit Paul keinen Deut. Auch sie verbleiben in der Irrelevanz.

Aber vielleicht ist das alles so? Vielleicht ist es das, was das Leben an den Rändern, das so viele Leserinnen und Leser in welcher Art auch immer betrifft, ausmacht. Dass alles so bleibt, wie es ist, unabhängig davon, wo man Zuflucht sucht.

Olivier Adam: An den Rändern der Welt, Klett-Cotta, 423 s., CHF 32.90. €24.95

Beitragsbild: Von David.Monniaux – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, 

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