Mystisches Licht

James Turrells Lichtinstallationen spielen mit der Wahrnehmung des Menschen

«Schreib’ nie von dir!», lernten wir im Journalismus-Studium. Das Ich des Autors bleibt aussen vor. Daran halte ich mich – eigentlich immer. Das Erleben von James Turrells Kunst aber berührt geistige und seelische Sensoren im Betrachter, wie dies kaum das Werk eines anderen zeitgenössischen Künstlers zustande bringt. Es braucht dazu eine sehr spezifische Art der Kunst: Eine, die alle Sinne erreicht. Und weil sie dies tut, kann ich als Journalist diese Erfahrung der Sinnlichkeit, der körperlichen Aneignung dieser Kunst, nicht von mir abstrahieren. Was beim Erleben von Turrells Kunst geschieht, ist untrennbar mit dem Betrachter verbunden. 

Der 1943 in Kalifornien geborene James Turrell arbeitet mit Licht, natürlichem und künstlichem, oft mit beiden zusammen. Anhand künstlichen Lichts und dessen Auswirkung auf die Wahrnehmung des Tages- oder Nachtlichts lässt Turrell uns die Erfahrung machen, dass die Art, wie wir Licht sehen, nicht einfach gegeben ist. Ein Beispiel: Der Himmel ist nicht blau, wir nehmen ihn aus physikalischen Gründen so wahr. Ändert sich das Umgebungslicht, so scheint der Himmel plötzlich nicht mehr so blau wie vorher, sondern leuchtet je nach farblicher Einwirkung beispielsweise türkis oder grünlich, verblüfft mit tiefstem Schwarz oder überrascht mit einem zarten Grau. 

So anschaulich und sichtbar diese Licht-Kunst ist, so vollendet sie sich noch viel mehr als die greifbaren Werke bildender Kunst im Individuum selbst. Wir schauen uns diese Kunst nicht nur an, sondern erleben sie mit allen Sinnen. Wie Farbe und Licht uns beeinflussen, wissen wir, seit wir bewusst wahrnehmend vor Bildern von Mark Rothko oder Helen Frankenthaler standen. Wir erfahren dabei, dass neben den herkömmlichen Dimensionen der Kunst, wie Raum, Farbe und Struktur auch Zeit eine Rolle in der Wirkung des Werks spielt. So können wir auch Turrells Werke nicht einfach nebenbei konsumieren. Ein kurzer Blick auf ein plakatives Werk, das später noch in uns fortwirkt, wie das beispielsweise bei Warhol oder Beuys funktioniert: Das geht mit Turrells Installationen nicht. Raum, Zeit, Stille, Farbe, Licht, Natur, Spiritualität, Wandel; alles will erlebt, begriffen werden. 

Was wir sehen – und was wir zu sehen glauben

Und so verweilten meine Töchter und ich bei den Recherchen für diesen Artikel viele Minuten andächtig im Diözesanmuseum im bayrischen Freising in dem nicht allzu grossen Raum, den Turrell 2023 eingerichtet hat. In Anlehnung an eine bekannte byzantinische Ikone, die im Museum ausgestellt ist, nennt er sein Werk: «A chapel for Luke and his scribe Lucius the Cyrene» (das erkläre ich nun nicht weiter). Abgerundete Ecken erzeugen die Illusion von Unbegrenztheit. Beim Betreten des Raums, zu dem wir die Schuhe ausziehen – das führt über den sensitiven Kontakt mit dem Boden, urtümlich und direkt, zu einem mystischen Ausgeliefertsein an die Situation – sehen wir vor uns ein grosses rundes Loch, eingelassen in die Rückwand und mit einem breiten Rahmen versehen, der – gleich dem Loch – unterschiedliche Farben annehmen kann; wobei die Quellen des Lichts und der Farbe nicht sichtbar sind.

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Reise zur Abstraktion

Das Museum Folkwang in Essen zeigt eine herausragende Schau zum Werk von Helen Frankenthaler

Als ich 2019 die Biennale in Venedig besuchte, habe ich eher zufällig auch die «Kollateral-Ausstellung» von Helen Frankenthaler im edlen Palazzo Grimani besucht. Frankenthaler? Sagte mir damals überhaupt nichts. Aber mal ehrlich: Wie viele Malerinnen der New York School (eine Künstlergruppe im Umkreis des abstrakten Expressionismus) können Sie spontan aufzählen? Tja, eben! Vielleicht fiel Ihnen ja Elaine de Kooning ein? Oder Joan Mitchell? Lee Krasner? Grace Hartigan? Falls Sie viermal nickten, sind Sie schon ein Profi. 

Ich jedenfalls kannte Frankenthaler nicht, und war begeistert über das, was ich da für mich entdeckte. Eine Künstlerin, die zu Anfang der 50er-Jahre nach New York kam, ausgebildet an einer Kunsthochschule, in der sie den zeitgenössischen Kubismus von Picasso und Braque in ihre Bilder einfliessen liess. 

Sie begegnete Jackson Pollock, der damals bereits seine Drip-Paintings geschaffen hatte und dazu erstmals die Leinwand von der Staffelei nahm und auf den Boden legte, um sie mit Farbe regelrecht zu bespritzen. Seine Malerei war Körperarbeit. Der damalige Gross-Kritiker Clement Greenberg („Im Grunde gibt es nur zwei Arten von Kunst, gute und schlechte“), mit dem Frankenthaler einige Jahre zusammen war, machte sie mit Pollock bekannt. Und sie erfuhr, dass man Regeln überschreiten kann. Dass man das Malen neu denken kann. «Er ebnete mir den Weg und gab mir die Freiheit, meine eigenen Spuren zu hinterlassen und meinen eigenen Beitrag zu leisten», sagte sie später über diese Begegnung. 

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Kunst als Schmerzmittel

Ibrahim El-Salahi in der Kunsthalle Zürich

Von Kunst afrikanischer Künstlerinnen und Künstler habe ich leider wenig Ahnung. Ausser der unglaublichen Zanele Muholi könnte ich spontan niemanden nennen… naja, doch schon noch den einen oder die andere, so beispielsweise Roger Ballen oder El Anatsui oder natürlich William Kentridge. Aber um sie alle geht es hier nicht. 

Ich wollte eigentlich an einem völlig anderen Event teilnehmen, da das aber nicht funktionierte, landete ich eher zufällig in der Ausstellung von Ibrahim El-Salahi in der Kunsthalle Zürich. El-Salahi ist einer der prägenden Künstler der afrikanischen Moderne, wurde im Sudan geboren und ist mittlerweile 92 Jahre alt. Als einer der ersten hat er westlich geprägte Kunststile mit traditionellen sudanesischen Themen verbunden. Neben seiner Arbeit als Künstler war er Kulturattaché an der sudanesischen Botschaft in London und Unterstaatssekretär im sudanesischen Kulturministerium. Nachdem er 1975 wegen einer angeblichen Beteiligung an einem Putsch ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis gesteckt worden war, kam er im Jahr darauf in Hausarrest. Zwei Jahre später verliess er den Sudan, um sich erst in Katar, dann in Oxford niederzulassen, wo er heute noch im Exil lebt. 

Kleine Gemälde aus Tinte

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Die Kunst ist zurück in der Serenissima

Nach pandemiebedingter Pause hat die Kunstbiennale wieder ihre Tore geöffnet. 

Wer weiss ist, über 50 Jahre alt, männlich und Europäer (wie der Autor), kann sich glücklich schätzen, wenn er an der 59. Biennale in Venedig Kunst nur konsumieren und nicht ausstellen möchte. Er hätte kaum eine Chance. 

Die Kuratorin Cecilia Alemani, bekannt als Chefkuratorin der High Line Art in New York, einer Skulpturenmeile auf dem Trassee einer ausgedienten Hochbahn, hat mehr als 1500 Werke von 213 Künstlerinnen und Künstlern in die beiden zentralen Ausstellungen in Venedigs Arsenale und die Gardini geholt. Rund 90 Prozent der Ausstellenden sind weiblich. So gehen auch die Hauptpreise, die (männlichen) goldenen Löwen, an Künstlerinnen. Zwei Vertreterinnen der Black Community haben mit ihren Arbeiten die Jury am meisten überzeugt: Die US-Amerikanerin Simone Leigh und die Britin Sonia Boyce nehmen je einen Löwen mit nach Hause. Die Qualität ihrer Werke ist selbstverständlich hoch, davon konnte man sich kürzlich auch an der Art Basel überzeugen. Konsequent wäre es allerdings gewesen, wenn Künstlerinnen für die Hauptpreise gewählt worden wären, die nicht in einem englischsprachigen Land der ersten Welt arbeiten. 

Leigh wurde für ihren Beitrag in der Hauptausstellung «The Milk of Dreams» ausgezeichnet. Die fast fünf Meter hohe Bronzebüste «Brick House», die den Kopf einer augenlosen Afrikanerin über einem Torso in Form eines traditionellen Tonhauses darstellt, findet sich gleich zu Anfang der Ausstellung im Arsenale-Areal. Die Skulptur Leighs, welche im Aussenbereich des Arsenale mit weiteren Werken vertreten ist, verweist durch ihre architektonischen Bezüge auf die starke, mit beiden Beinen auf der Erde stehenden afrikanischen Frau, die in traditionellerweise patriarchalen Systemen Selbstbehauptung und Charakter zeigt. 

Simone Leigh: Sovereignty. Amerikanischer Pavillon

Gender, Race, Identity

Hiermit sind einige der grossen Themen der diesjährigen Biennale bereits ausgesprochen. Geschlechterrollen, Hautfarbe, Identität – oder besser auf Englisch: Gender, Race, Identity! Wer sich dieser Inhalte in seiner oder ihrer Kunst verschliesst, hat wenig Chancen auf einen Platz in dieser Schau. 

So erstaunt auch der Löwe für Sonia Boyce nicht. Sie wird mit dem Preis für ihre Arbeit im britischen Pavillon geehrt. Die Arbeit ist in der Tat berückend. Fünf schwarze Sängerinnen flimmern über grosse Bildschirme und singen einzeln oder gemeinsam Lieder, die wiederum auf ihre Identität als schwarze Frauen verweisen. Ein Erlebnis für alle Sinne, das auf ein weiteres Leitmotiv dieser Biennale verweist: Die Fragilität des menschlichen Körpers, auch die Metamorphosen dieses Körpers. Die Stimmen der Sängerinnen sind nicht immer stark und laut, sondern drücken auch Verletzlichkeit aus, die Sängerin verwandelt sich in einen scheuen Menschen, der Körper verschwindet hinter den Tönen. 

Drei Themenblöcke also strukturieren diese Biennale, wie Alemani in einem Statement erklärt: Die Darstellung von Körpern und deren Metamorphosen, die Beziehung zwischen Individuen und Technologien und die Verbindung zwischen den Körpern und der Erde. Der Fokus auf den Körper führt freilich dazu, dass die figurative Malerei und die körperbetonte Skulptur an dieser Ausgabe der Biennale fröhliche Urständ feiern. Die abstrakte Kunst hat es schwerer, auch wenn es wackere Versuche gibt, der Abstraktion Raum zu schaffen, wie beispielsweise im phänomenalen irischen Pavillon. Dort setzt Niamh O’Malley in ihren Skulpturen ganz auf Form und Material. Formen aus Kalkstein liegen am Boden, Stahlfächer bieten Schutz vor metaphysischer Bedrohung. Abstrakte Formen generieren eine Ästhetik, die jenseits jeder figurativen Bedeutung liegt. 

Allison Katz: Portrait of the artist as a young girl(s) (Detail)

Zeitkapseln schaffen Verbindung zur Vergangenheit

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Überflüssige Körper brauchen kein Wasser

Elmgreen & Dragset in der Fondazione Prada in Mailand

Kein besserer Ort als Mailand, diese riesige Shoppingmeile, wo jede und jeder Zweite mit übergrossen Taschen internationaler Luxuslabels durch die im August halbleeren Gassen rund um den Dom schlendert, ist für diese Ausstellung denkbar. Elmgreen & Dragset (E&D), das in Berlin domizilierte Künstlerduo, loten die Funktionen des menschlichen Körpers aus, der von einer Produktionseinheit zum nutzlosen Träger ebendieser in Mailand gekauften Luxusmode wird. Ohne Körper keine Kleidung! 

E&D bespielen einen grossen Teil der mit viel Platz ausgestatteten Fondazione Prada im Süden Mailands. In einem ersten Raum erleben wir eine Konfrontation der bekannten Skulpturen des Duos mit dem antiken Blick auf den menschlichen, hier fast ausschliesslich männlichen Körper. Während die Antike auf die ausgeglichenen Proportionen und die klassische Schönheit des Körpers fokussiert, drücken die neuen Figuren auch die Brüche der heutigen Gesellschaft aus. Der Junge mit dem Siegerpokal blickt enttäuscht, als habe er eben seinen Match verloren. Ein kleiner Junge blickt voll Staunen auf ein Gewehr. Die Unmittelbarkeit der menschlichen Pose, die in der Antike in der Anschauung direkt erlebbar war, geht bei E&D verloren. Unbehaust versteckt sich ein weiterer Junge in einem Kamin, doch damit entkommt er nicht den strengen Blicken seiner Gouvernante – eigentlich ebenfalls ein Bild von gestern. Am Ende bleibt die virtuelle Wahrnehmung all dieser Körper, von der Ecke des Raumes aus blicken zwei Jungen durch VR-Brillen auf das Geschehen. Unvermittelt geschieht hier gar nichts mehr – der Körper steht nicht mehr für sich selbst. 

Oberhalb dieses Raums haben E&D ein Grossraumbüro nachgebaut, in Reih und Glied stehen die Arbeitskojen, ausgestattet mit Tastatur und Bildschirm, wie Legebatterien, eine wie die andere. Vereinzelt erzählen Accessoires von den Menschen, die eigentlich hier arbeiten, aber offenbar ist es Wochenende – oder alle arbeiten im Homeoffice. 

Ein weiteres Gebäude beherbergt klinisch steriles Mobiliar. E&D haben ihre Tradition der imaginierten Innenarchitektur offensichtlich erfolgreicher Bewohnerinnen und Bewohner fortgesetzt. Diesmal statten sie eine Wohnung mit klinischem und nutzlosen, aber sehr minimalistisch-ästhetischem Mobiliar aus. Das Interieur genügt sich mittlerweile selbst. Die Küche kubisch und unbrauchbar, die menschlichen Körper scheinen abgeschafft, denn auf den Stangen rund um den Konferenztisch wird niemand sitzen können. Das Mobiliar reduziert sich auf seine Effizienz. 

Weitere Gebäude werden bespielt, auch der freie Raum darum herum. Nutzlose Dinge stehen herum, eine Kühlbox, Verkehrsschilder, die aus Spiegeln bestehen, die berühmte Bank «for homosexuals only». Daneben eine weitere Bank, abgebrochen, auf dem noch vorhandenen Teil steht nur noch «only». Wer wäre hier wohl zum Sitzen berechtigt? Heterosexuelle? Oder andere Minderheiten, wie alte, weisse Cis-Männer? Willkommen bei der Sitzgelegenheit für Ihre Vorurteile. 

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Biennale Venedig: Die Welt braucht Künstlerinnen

«Mögest du in interessanten Zeiten leben» lautet das Motto der alle zwei Jahre stattfindenden Biennale in Venedig zur zeitgenössischen Kunst. Geprägt werden die Zeiten  aktuell von Männern wie Trump, Johnson, Erdogan oder Putin. Ralph Rugoff, der künstlerische Leiter, stellt solch männlichem Blick auf die Welt das Vertrauen der Frauen ins Gute entgegen. 

Wir leben in «Interesting Times», so sieht es jedenfalls der der künstlerische Leiter der Biennale, Ralph Rugoff. In seiner Einführung zur Biennale schreibt der US-Amerikaner, dass die aktuellen, also die interessanten Zeiten, durchzogen seien von Fake News im digitalen Raum. Solche Falschnachrichten würden das Vertrauen der Menschen in die öffentlichen Medien zum Verschwinden bringen. Aber die Kunst, so hofft Rugoff, könnte das Vertrauen in eine positive Entwicklung zurückgeben.

Doch wie soll das funktionieren? Erst einmal müssen wir wissen, wie sie gestaltet sind, die sogenannten interessanten Zeiten. Geprägt werden sie jedenfalls von Männern: Donald Trump, Boris Johnson, Victor Orban, Vladimir Putin. Sie alle hantieren mit «Fake News» und lieben die Macht. Mehr als die Kunst vermutlich. Männer, die ihren Blick auf die Welt als den einzig wahren sehen. Und in weiten Teilen Asiens und Afrikas? Dort bestimmen die Männer gleich noch über die Frauen mit. Je länger, je mehr. In einigen Städten und Landstrichen kommen Frauen in der Öffentlichkeit nur noch als unförmige, von Tüchern eingehüllte Dreiecke oder Rauten vor. Der Mensch wird zur Form. Man google nur einmal «Strassenszene in Afghanistan» und lasse sich inspirieren – oder verschrecken. 

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Gegentrends zur Hau-den-Lukas-Kunst: Art Basel 2019

Das bezauberndste Werk an der diesjährigen Art Basel finde ich in der Sektion „Unlimited“. Dort werden jedes Jahr die besonders lauten, besonders grossen, besonders überwältigenden Stücke ausgestellt. In diesem Jahr beispielsweise eine riesige Peitsche von Monica Bonvicini aus dutzenden Gürteln, die von einer Maschine betrieben die Luft schlägt. Oder eine Autowaschmaschine, die Sperrholzautos nicht wäscht, sondern mit Farbe bespritzt. Oder die Geschichte der #metoo-Bewegung auf grossen roten Leinwänden, mit Anschuldigen an alle möglichen Täter, seien diese nun bestätigt oder bestritten. Kunst, die sich einem in den Weg stellt und durch ihre riesenhafte Präsenz unsere Aufmerksamkeit einfordert. 

Jochen Lempert. Botanical Box 2009-2019

Und doch ist das erwähnte bezauberndste Werk, obwohl bei „Unlimited“ angesiedelt, zart, ruhig, fragil gar. Jochen Lemperts rund 20 Fotografien, die meisten in einem weissen Raum mit Klebstreifen direkt an die Wand befestigt. Einige werden liegend in einer Vitrine präsentiert, als seien sie besonders empfindlich. Die Fotografien, althergebrachte Silbergelatine-Abzüge, zeigen unter dem Titel „Botanical Box“ Pflanzenstrukturen aber auch flüchtige Momente, wie den Rauch aus unbekannter Quelle oder das von einem Windstoss in die Höhe getriebene Laub. Kleinste Strukturen, wie ein an Rosmarin erinnernder Zweig, schwarz-weiss wie alle Bilder, in graziler Rhythmik festgehalten, erinnern mich daran, dass Kunst nicht nur Artefakt oder die kreative Rezeption von politischen und gesellschaftlichen Irrwegen darstellt, sondern schon immer präsent war und sich im Alltag manifestiert. 

Jochen Lempert. Botanical Box 2009-2019

Nun ist es noch lange keine Kunst, wenn ich eine Blume vor einem Autoreifen fotografiere. Wenn aber Jochen Lempert das macht, dann entsteht eine flüchtige Kunst, die sich nicht nur gegen all die Kapoors, Koons und Hirsts mit ihrer Hau-den-Lukas-Kunst behauptet. Vielmehr holt sie etwas wieder hervor, das sich kurz zuvor, bei der Ansicht eines bonbonfarbenen tonnenschweren Stahlherzens von Jeff Koons, aus Schreck tief in mir vergraben hat: Die Überzeugung, dass Kunst eine Aussage über die Welt macht, die wir anders nicht erfahren können.

Die Ästhetik der politischen Kunst

Politik ist auch ein beliebtes Feld, an dem Gegenwartskunst sich abarbeitet. Oft entstehen eher sinnflache Werke wie beispielsweise Donald Trump als «Tin Man of the Twenty-first Century», ein Werk der in den USA wohnenden kubanische Künstlerin Coco Fusco. Hin und wieder wird Politisches aber so intelligent in Kunst verwandelt, dass sich neue Zusammenhänge ergeben oder der Ruf nach Gerechtigkeit derart wahrhaftig ertönt wie bei EJ Hill. Selbst Opfer von rassistischen Vorurteilen glaubt der 1985 in Los Angeles geborene Künstler weiterhin an die «Macht der Repräsentation» und die «Möglichkeit der Heilung», wie er auf seiner Webseite schreibt. In seiner Installation an der Art Basel nimmt er Bezug auf die Ermordung des 12-jährigen Tamir Rice in Cleveland, der 2014 von einem Polizisten erschossen wurde, weil er mit einer Spielzeugpistole herumfuchtelte. 

Coco Fusco: Tin Man of the Twenty First Century

Hill erfindet eine «University of St. Tamir», mit Wandtafel, Uni-Logo und einem Schrein mit 12 Calla-Lilien, eine für jedes Lebensjahr von Tamir. Auf der Wandtafel steht in Leuchtbuchstaben «WE ARE NOT OUR PAIN». Die Uni ist ein Ideal, eine Hochschule für Benachteiligte, für Minoritäten. Erste Lektion: Wir sind nicht unser Schmerz! Auf der Rückseite der Wandtafel: Ein rosa Spiegel. Wer in ihn blickt, sieht die Welt rosa. Die Botschaft ist so einfach wie klar: Ohne Chancengleichheit in der Bildung werden weitere Opfer wie Tamir Rice unvermeidlich sein. 

EJ Hill: University of St. Tamir

EJ Hill hat einfache und doch subtile Wege gefunden, die Ungleichheiten in der amerikanischen Gesellschaft anzuprangern. Was seinen von ähnlichen Ansätzen unterscheidet ist, dass er in seiner Kunst Lösungen aufzeigt und Hoffnung macht. Es gibt Wege aus dem Dilemma. Ohne Zweifel ist Hill ein Künstler, der uns noch viel zu sagen hat; dank eines Werks, das die Ästhetik des Politischen auslotet. 

EJ Hill: University of St. Tamir. Installationsansicht

Folgende Bilder:
Tom Friedman: Balloon / Ugo Rondione: The Sun / David Knorr: Laundry / Steven Parrino: 13 Shattered Panels (for Joey Ramone)

Art Basel 2019. Noch bis zum 16. Juni.

Pink hinter Gittern

Wie eine Farbe Karriere machte

Mühelos drückte der Studienleiter die ausgestreckten Arme des erstaunten Probanden nach unten. Sekunden zuvor hatte dieser dem Druck noch standhalten können. Was war passiert, in dem Experiment, das der Fotobiologe John N. Ott 1978 im kalifornischen Santa Ana durchführte?

Zunächst sollte der Proband seine Arme im rechten Winkel von sich strecken. Der Studienleiter versuchte daraufhin, die Arme wieder nach unten, zur Hüfte, zu drücken. Waren Studienleiter und Proband ähnlich kräftig, konnte der Proband den Druck während drei Sekunden aushalten, ohne ihm nachzugeben. Dann aber wurde ihm ein 60 x 90 cm grosser, rosafarbener Bogen Papier vor die Augen gehalten. Schlagartig liess die Kraft des Probanden nach und der Studienleiter drückte seine Arme nach unten.

Der Sozialbiologe Alexander G. Schauss berichtete ein Jahr später an einem medizinischen Kongress von diesem Experiment. Der Effekt konnte bei 151 von 153 Studienteilnehmern festgestellt werden. Schauss erzählte in der Folge auch von einem Test, den er selbst durchführen wollte. Bei Tierexperimenten sei bereits festgestellt worden, dass sich rosafarbenes Licht auf das Hormonsystem von Mäusen auswirke. Der genaue Grund für den Effekt konnte allerdings nicht geklärt werden. (mehr …)

 «Wenn ich male, bin ich glücklich»

Die in Beirut geborene Künstlerin und Schriftstellerin Etel Adnan wurde erst im Alter von 87 Jahren als Malerin entdeckt.. Nun ist sie über 90 und stellt in den grossen Museen der Welt aus. Das Zentrum Paul Klee in Bern widmet ihr eine Ausstellung.

Mit beinahe 90 Jahren als Malerin den Durchbruch zu schaffen, darauf hat Etel Adnan wahrscheinlich nicht hingearbeitet. Denn Adnan hatte bereits als Schriftstellerin Karriere gemacht, als sie vor sechs Jahren in Kassel mit ihren kleinformatigen Bildern einen eigenen Saal an der dOCUMENTA (13) ausstatten konnte. Seit vielen Jahre war die in Beirut aufgewachsene Tochter eines muslimischen Syrers und einer christlichen Griechin dank ihrer Bücher als politische Stimme bekannt. Der Roman Sitt Marie Rose über die Kriegswirren im Libanon machte sie in den 1980er-Jahren auch im Westen bekannt. Gemalt hat sie – parallel zum literarischen Werk – bereits seit den frühen 1960er-Jahren.

Nach einem Aufenthalt in Paris, wo sie Philosophie studiert hatte, zog sie damals nach Berkeley in Kalifornien. Dort schrieb sie an ihrer Dissertation und begann, Kunstphilosophie zu lehren. Eine Kollegin fragte sie, wie sie dies tun könne, ohne selbst zu malen. Adnan antwortete, ihre Mutter habe gesagt, dafür stelle sie sich zu ungeschickt an. «Und glauben Sie Ihrer Mutter?», habe die Kollegin gefragt. Dies war der Anlass, zu Zeichenstift und Pinsel zu greifen. Schon damals war Adnan fasziniert von Paul Klee und seinem Werk: «Als ich in den frühen 1960-Jahren begann zu malen, war der Künstler, der mich am meisten prägte, Paul Klee. Ich war sofort gefangen. Ich suchte nach seinen Bildern in Büchern und in Museen, wann immer es mir möglich war», notiert Adnan im Katalog zur Berner Ausstellung.

Der Berg als «bester Freund» (mehr …)